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Die Zukunft der Landwirtschaft: Raus aus der Natur, rein ins Labor?

Die Zukunft der Landwirtschaft: Raus aus der Natur, rein ins Labor?

Mit dem Ausbruch des Ukrainekriegs droht uns eine erneute weltweite Hungerkrise, zusätzlich sorgt der Klimawandel für Ernteausfälle. Das sind nur zwei Gründe, warum sich die Agrarwirtschaft mit ihrer Zukunft befassen muss. Denn wie sollen Mitte des Jahrhunderts fast zehn Milliarden Menschen satt werden, wenn gleichzeitig die Zahl fruchtbarer Böden schrumpft?

Von Dr. Christian Grünwald

Laut Statista träumten im vergangenen Jahr mehr als neun Millionen Deutsche vom Urlaub auf dem Bauernhof. Reiseprospekte zeichnen ein idyllisches Bild vom Landleben, das so noch aus dem frühen 20. Jahrhundert stammen könnte: Da werden Kühe per Hand gemolken, Hühner picken auf dem Hof, ringsum steht das Getreide voll im Saft und die Früchte reifen zum Pflücken nah. Die nächste Stadt dagegen ist weit entfernt. Klingt verlockend? Hat allerdings nur noch wenig mit der Gegenwart und schon gar nichts mit der Zukunft der Landwirtschaft zu tun. 

Immer mehr der fast 257.000 landwirtschaftlichen Betriebe in Deutschland ackern bereits smart, bewirtschaften ihre Flächen mithilfe von Sensoren, Satellitentechnik oder Drohnen und Datenanalyse effizienter und umweltschonender. Aber auch dieses sogenannte Precision Farming schützt sie nicht vor dem Vorwurf, maßgeblich für die Klimakrise verantwortlich zu sein. In Zahlen: Derzeit verantwortet die Landwirtschaft 70 Prozent des globalen Wasserverbrauchs und 20 Prozent der Treibhausgasemission. Auch Bodenerosion, hohe Nitratbelastung oder der Verlust der Biodiversität werden der modernen Land- und Viehwirtschaft angekreidet. 

Ruf zur Revolution

Kein Wunder, dass die Kritik ins Kraut schießt und selbst die knapp 36.000 Bio-Betriebe nicht ausspart. Der Bochumer Hochschulforscher Oliver Stengel ruft bereits zur Postlandwirtschaftlichen Revolution auf, schreibt in seinen Publikationen über das Ende von Ackerbau und Viehzucht und plädiert stattdessen für die zelluläre Landwirtschaft, bei der dann Labormitarbeiter:innen unsere Nahrungsmittel aus Stammzellen von Tieren und Pflanzen züchten. Die Agrarwirtschaft zieht sich bei diesem Szenario aus der Natur zurück, der Mensch wird zur Schöpferin oder Schöpfer und setzt stattdessen auf Deep Design, Biotech und Digitalisierung. Und die Natur? Bleibt sich selbst überlassen, macht was sie will und erholt sich dabei. 

Zukunftsszenarien: Was machen Bäuer:innen im Jahr 2042?

Wie bald wir uns zu Zeganern entwickeln, die zelluläre Nahrungsmittel verdauen, sei dahingestellt. Dass sich die Agrarwirtschaft allerdings Gedanken über eine nachhaltigere Zukunft machen muss, steht fest. Nach Berechnungen der Vereinten Nationen dürfte die Weltbevölkerung bis zum Jahr 2050 auf zehn Milliarden anwachsen. Gleichzeitig schrumpft weltweit die landwirtschaftlich nutzbare Fläche pro Kopf im selben Zeitraum um bis zu 20 Prozent, bedingt durch Klimawandel und Bodenerosion. Wer mit weniger Anbaufläche mehr Menschen satt bekommen muss, braucht andere, braucht innovativere Konzepte. 

Welches Narrativ setzt sich durch? 

Geht es um die Ernährung der Zukunft, so stehen derzeit zwei Narrative in Konkurrenz: Das erste setzt auf Hightech-Landwirtschaft, auf eine radikale Technisierung mit Robotik und künstlicher Intelligenz. Im zweiten räumen Bäuer:innen der Natur das Feld und unsere Nahrung gedeiht im Labor. Für die Gesellschaft für Energie- und Klimaschutz Schleswig-Holstein GmbH (EKSH) haben wir gerade Zukunftsszenarien für die Landwirtschaft im Jahr 2042 entwickelt. Sie zeigen, wie sich Agrarwirtschaft, politische Rahmenbedingungen und Gesellschaft in den verschiedenen möglichen Zukünften entwickeln könnten. Auf der Grundlage dieser Studie und weiterer Foresight-Projekte erkennen wir fünf Trends, mit denen sich Agrarwirtschaft, Lebensmittelindustrie und Gesellschaft schon jetzt auseinandersetzen sollten. 

 

Fünf Thesen zur Landwirtschaft von morgen

1.    Das Wort Landwirtschaft führt künftig in die Irre

Der Begriff hat bald ausgedient. Denn er verengt unseren Blick. Mit gleichem Recht könnten wir künftig von Stadtwirtschaft sprechen. Schließlich machen Urban, Indoor oder Vertical Farming die Stadt zur Anbaufläche. In mehrstöckigen Gewächshäusern gedeihen Tomaten, Paprika, Salat oder Pilze und haben es nicht weit zu den Verbraucher:innen. Kombiniert mit Sensorik versprechen diese Verfahren mehr Ertrag und eine geringere Umweltbelastung. Weil die Pflanzen rund ums Jahr unter kontrollierten Bedingungen wachsen, ernten die Firmen mehrmals jährlich. Parallel dazu züchten Start-ups in Laboren und Bioreaktoren alternative Proteine und damit künstliches Fleisch oder artifiziellen Käse. Heißt: In der Agrarwirtschaft nimmt dank AgriTech- und Clean-Food-Start-ups die Zahl der Akteure zu. Dieser Wandel hat bereits begonnen. 

2.    Autarkie-Bestrebungen wachsen

Naturkatastrophen, Pandemie, Ukrainekrieg und geopolitische Spannungen untergraben zunehmend den Globalisierungsgedanken. Nicht nur in der Industrie, sondern auch in Sachen Ernährung. Der Wert der Globalisierung wird neu berechnet, nun gehen auch „grüne Kosten“ in die Kalkulation ein: Umwelt, Klima, Resilienz. Überall müssen Lieferketten diversifiziert werden; schon aus Umweltschutzgründen gewinnt Regionalisierung an Bedeutung. Selbst der Stadtstaat Singapur möchte künftig 30 Prozent der benötigten Lebensmittel selbst produzieren. Wenn sogar so kleine Länder die Voraussetzungen dafür schaffen wollen, ihre Bevölkerung im Krisenfall mit regionalen Lebensmitteln zu ernähren, müssen alternative Konzepte her. Da werden dann schon mal Hochhausdächer zu Ackerflächen umfunktioniert.  

3.    Landwirtschaft wird nicht mehr isoliert betrachtet

Im vergangenen Jahr forderte ein UN-Bericht, das System der Agrarsubventionen umzustellen. Denn die 570 Milliarden an Fördergeldern, die jährlich weltweit der Landwirtschaft zugutekommen, setzen laut Bericht die falschen Anreize. 87 Prozent der Maßnahmen hätten negative Folgen für Bevölkerung oder Umwelt. Die Alternative dazu beschreiben wir in einem Szenario in der oben erwähnten EKSH-Studie: In Zukunft werden Klima- und Gemeinwohlleistungen zum Maßstab öffentlicher Förderung, daher müssen agrarwirtschaftliche Geschäftsmodelle neu gedacht werden. Landwirtschaft wird in einen größeren, einen systemischen Zusammenhang eingebettet. Diese neue Förderlogik birgt gleichermaßen Chancen wie Risiken: Trägt die Landwirtschaft dazu bei, die Folgen des Klimawandels einzudämmen, kann sie Geldmittel erhalten, die zuvor für die Energie- und Klimaförderung reserviert waren. Andernfalls muss sie mit Einbußen rechnen. 

4.    Hoher Konkurrenzdruck um Ackerflächen

Rund die Hälfte des Bodens wurde in Deutschland im Jahr 2020 landwirtschaftlich genutzt. Allerdings treten immer mehr Flächenkonkurrenten auf den Plan. Auf dem Land erschließen sich Bäuer:innen neue Erwerbsquellen. Manche werden sich auf Gemeinwohlleistungen spezialisieren: Sie kümmern sich um die Wiedervernässung von Mooren oder weisen auf ihren Feldern Blühstreifen und Naturschutzflächen aus. Andere engagieren sich im Tourismus oder pflanzen Solaranlagen oder Windräder auf ihren Flächen und ernten Erträge aus dem Emissionshandel. Viele werden auf einen Mix an Nutzungsarten setzen. Diese Flächenkonkurrenz birgt Chancen für alternative Geschäftsmodelle, aber es brechen auch neue Konfliktlinien auf – denn das Gesicht unserer Landschaften wird sich verändern. Nicht immer zum Schöneren: Ein blühendes Rapsfeld sieht einfach netter aus als Solarpanele in Reih und Glied – auch wenn letztere für die Energiewende unumgänglich sind. 

5.    In vitro ist das neue Bio

Das endgültige „Verfallsdatum“ von Fleisch rückt immer näher. Selbst bekennende Carnivoren werden in einigen Jahren auf künstlich erzeugtes, auf „cleanes“ Fleisch umsteigen. Aus ethischen Gründen und weil das Laborerzeugnis künftig deutlich preiswerter sein wird. Lebensmittel – pflanzliche wie tierische – werden dank synthetischer Biologie zunehmend zum Hightech-Produkt; was im Labor wächst, ist frei von Umweltschadstoffen. Diese biodigitalen Innovationen verdanken wir der engen Kooperation von Molekularbiologie, organischer Chemie, Ingenieurwissenschaften, Nanobiotechnologie und Informationstechnik.