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Wie Foresight von Gamification profitieren kann

Menschen mögen Spiele. Gamificiation macht sich den Spieltrieb zunutze: Gaming-Elemente in spielfremden Kontexten wirken motivierend und bringen unkonventionelle Ideen hervor. Vanessa Watkins und Andreas Neef zeigen, wie Foresight von Gamification profitieren kann.


Kein anderer Industriezweig hat in den letzten Jahrzehnten ein ähnlich explosives Wachstum erfahren wie die Computer- und Videospielbranche. Drei Milliarden Stunden in der Woche verbringt die Menschheit aktuell mit Computerspielen, weltweit gibt es ca. 1,2 Milliarden aktive Gamer, und die globale Spieleindustrie wird 2015 einen Umsatz von knapp neunzig Milliarden Dollar erreichen. Gaming ist mithin ein weltumspannender Trend, von dessen Erfolg verstärkt auch andere Branchen lernen wollen. Wie bringt man Menschen dazu, sich stundenlang und hochmotiviert mit einer mehr oder minder sinnvollen Aufgabe zu beschäftigen? Das Zauberwort heißt “Gamification“.

Der Gamification-Trend

Gamification bezeichnet die Übertragung spieltypischer Elemente in spielfremde Kontexte. Zu diesen spieltypischen Elementen gehören unter anderem das Sammeln von Punkten, Highscore-Listen, virtuelle Güter, aber auch Spielregeln, spielähnliche Interfaces oder sinnstiftende Geschichten (“Epic Meaning“). Seit 2010 wird das Gamification-Konzept kontrovers diskutiert. Immer mehr öffentliche Forschungs- und Bildungseinrichtungen sowie Unternehmen testen aktuell, wie sie durch Spieldesign-Prinzipien ihre Produkte bzw. Dienstleistungen, aber ebenso Verrichtungen des alltäglichen Lebens unterhaltsamer und gewinnender gestalten können. Auch die Association of Professional Futurists veranstaltete im Mai 2013 in Orlando, Florida, eine Konferenz unter dem Titel “Play–Games, Simulations, and the Future“, um die Foresight-Szene einer Gamifizierung näher zu bringen.

Die Mobilisationskraft des Spieltriebs

Die zugrunde liegende Idee von Gamification ist einfach: Immer mehr Menschen widmen sich begeistert und ausdauernd Computer- und Videospielen, wobei sie häufig über Stunden repetitive Tätigkeiten ausführen – wie z.B. die Erlegung eines immer gleichen Monsters, bis genügend Punkte für ein neues Level erreicht sind. Gamification versucht, diese enorme Mobilisationskraft des Spieltriebs in der realen Welt nutzbar zu machen, auch für naturgemäß weniger unterhaltsame Aspekte des Lebens. 

Beispiele: Verkehrssicherheit und Fitness

Typische Anwendungsfelder für Gamification-Ansätze sind etwa Gesundheit, Lernen oder Verkehrssicherheit. So konnte in einem Gamification-Pilotprojekt in Stockholm das Fahrtempo von Autos mittels einer “Blitzer-Lotterie“ um 22 % gesenkt werden. Geblitzt werden nach wie vor die Verkehrssünder – zudem aber auch jene Fahrer, die sich an das jeweilige Tempolimit halten. Wer regelgetreu fährt, nimmt automatisch an einer Lotterie teil und kann mit etwas Glück das Strafgeld der Raser gewinnen. Entwickelt wurde das Glücksspiel im Rahmen des Ideenwettbewerbs “Fun Theory Awards“, einer Initiative von Volkswagen; umgesetzt wurde es dann von der schwedischen Gesellschaft für Verkehrssicherheit.

Im Bereich Gesundheit hilft z. B. die Lauf-App “Zombies, Run!“, die Motivation von Joggern zu steigern. Zu absolvierende Runden werden mit dieser App zu lebensrettenden Missionen, bei denen Versorgungsgüter in von Zombies belagerte Gebiete gebracht werden müssen. Per GPS wird der jeweilige Standort erfasst, und kommen die Zombies zu nahe, wird der Läufer gewarnt. Dann gilt es, einen Zahn zuzulegen.

Oftmals wird das Gamification-Prinzip auch in sehr reduzierter Form angewandt, indem nur ein einzelnes Spielelement in einen neuen Kontext übertragen wird. So kann man sich z. B. bei immer mehr Web-Services durch bestimmte Tätigkeiten (etwa taggen, kommentieren, neue User werben) Bonuspunkte erarbeiten. Diese ermöglichen dann die Freischaltung von Extra-Guthaben oder mehr Speicherplatz. Auch Statusbalken, die anzeigen, welchen Anteil einer Aufgabe man bereits erfüllt hat – sei es bei Online-Umfragen oder beim Ausfüllen eines Webprofils –, stammen ursprünglich aus der Computerspiele-Welt. 

Serious Games

Einen interessanten Unteraspekt des Gamification-Trends bilden die “Serious Games“: Computerspiele, die nicht primär der Unterhaltung dienen, sondern Informationen oder Bildungsinhalte vermitteln. So geht es z.B. im Lernabenteuerspiel AJABU um die Aufklärung und Bildung über Afrika. Natur- und Umweltzerstörung sind ebenso Thema wie Rohstoffe, Globalisierung, Interessenpolitik, Korruption und Rassismus. In der Wirtschaft setzt eine wachsende Zahl von Unternehmen Spiele für Recruiting-Zwecke ein. Beim französischen Postdienstleister Formaposte etwa durchläuft man in einem Onlinespiel die typische Arbeitswoche eines Post-Azubis. Bei Volkswagen dürfen sich angehende Kfz-Mechatroniker in einer virtuellen Werkstatt beweisen, während Nachwuchskräfte bei Lufthansa sogar eine eigene Airline gründen können.

Ein weiteres Anwendungsfeld für “Serious Games“ ist die Forschung. Im Jahr 2011 sorgte das Spiel “Foldit“ von der University of Washington für Furore, nachdem mithilfe von 57.000 Spielern ein Oberflächenprotein des HI-Virus entschlüsselt werden konnte. Das Spielziel von Foldit bestand darin, Proteine (Eisweißmoleküle aus vielen Aminosäuren) durch Drehen, Schieben und Falten in einen möglichst energiearmen Zustand zu bringen. Rund 100.000 registrierte Spieler arbeiteten sich 2012 an Proteinketten ab und nahmen somit den Forschern freiwillig eine ebenso langwierige wie notwendige Arbeit ab.

Gaming vs Playing

Die wachsende Kritik am Gamification-Trend richtet sich vor allem gegen die steigende Zahl von Projekten, die den Einsatz von Spiel-Designelementen als wohlfeiles Instrument zur Motivations- und Partizipationssteigerung verkaufen. Nur weil Spiele Spaß machen können, seien sie nicht automatisch auch motivationsfördernd, erklärt etwa Judd Antin von Yahoo Research in der Technology Review. Vielmehr könne ein spielerisches Element, das manche Menschen motiviert, auf andere komplett demotivierend wirken. Daher sollte man sich damit auseinandersetzen, welche Art von Spielelement in welchen Kontexten funktioniert. Der naheliegenden Vermutung, dass das Ausloben von Belohnungen für erwünschte Tätigkeiten nicht schaden könne, widerspricht Judd Antin. “Crowding Out“ nennt man in der Sozialpsychologie das Phänomen, dass die intrinsische Motivation durch extrinsische – z. B. finanzielle – Belohnung geschmälert werden kann. Wonach Menschen streben, unterscheidet sich mitunter grundlegend: Anerkennung, Zugehörigkeit zu einer Gruppe, persönliche Weiterentwicklung, Status, Ansehen etc. Die Steigerung von Engagement und Partizipation durch Spiele will also mit Bedacht angegangen werden. Auf jeden Fall sollte man sich vorab ein genaues Bild der Menschen machen, die man erreichen möchte. 

Was genau lernen Menschen durch Spiele?

Bei “Serious Games“ ist zudem fraglich, was genau Menschen durch Spiele eigentlich lernen. Verinnerlichen sie lediglich den Spielmechanismus? Oder behalten sie auch darüber hinaus Inhalte? Michael Wagner, Spieleexperte vom Department für Bildwissenschaften der Donau-Universität Krems, kommt zu dem Schluss: Was man im Spiel lernt, bleibt auch im Spiel. Menschen lernten lediglich, was für den Erfolg im Spiel wichtig ist; konkrete Inhalte könne man kaum vermitteln. Lee Skallerup Bessette, Bloggerin bei Hybrid Pedagogy, wirft darüber hinaus die Frage auf, ob es überhaupt wünschenswert sei, Menschen an Belohnung für den Lernakt zu gewöhnen. Sollte es nicht vielmehr das Ziel sein, Freude am Lernen zu vermitteln? Ihrer Meinung nach erreicht man dies besser im Freien Spiel (“Play“) als in einem Spiel mit Regeln und Belohnungen (“Game“). 

Tatsächlich scheinen nicht wenige Unternehmen und Institutionen bei der Entwicklung von Gamification-Anwendungen zu vergessen, dass jedes Spiel (im Sinne von “Game“) auch immer “Play“-Elemente beinhalten sollte. Vielen dieser Anwendungen fehlt der Spaß- und Sinnfaktor. Kaum jemand gibt sich einem Spiel nur deshalb hin, weil es einen guten Bewertungsmechanismus aufweist und man Punkte sammeln kann. Bei Gamification-Anwendungen wird aber genau das als Motivations- und Partizipations-Wunderwaffe verkauft. Koen van Turnhout, Forscher für Interaktionsdesign und Neue Medien an der Hochschule Arnheim, spricht sich deshalb für mehr “Playification“ statt “Gamification“ aus und verdeutlicht seine Forderung am Beispiel des Zähneputzens: Wer wolle schon Punkte für gutes Zähneputzen sammeln? Mehr Spaß bei der täglichen Mundhygiene könne hingegen aufkommen, wenn man von Zuhause aus Teil einer weltweiten Zähneputz-Symphonie sein könne. Auch wenn man sich über die Praxistauglichkeit dieses Beispiels streiten kann, so wird doch klar, dass gute Spiele neben Regeln immer auch weitere Ingredienzen bieten: spannende Geschichten, die Möglichkeit, Teil von etwas Größerem zu sein (sozial/narrativ), sich auszuprobieren und oft auch selbst das Spiel mitzugestalten und zu verändern. 

Playification als freies Spiel

Playification wird aktuell vor allem in der Kunst- und Designforschung eingehender diskutiert. Auch hier sollen Nutzer zu einer spielerischen Interaktion mit einem Objekt oder Thema animiert werden, allerdings ohne Beschränkung durch formale Spielregeln oder Designaspekte. Vielmehr steht hier der Mensch mit seinem subjektiven Erleben im Zentrum. Brigid Costello und Ernest Edmonds von der University of Technology Sydney haben eine Systematik spielanimierender Erfahrungen entwickelt und dazu – unter Berufung auf verschiedene Philosophen, Psychologen und Spieledesigner – sogenannte “pleasure categories“ identifiziert. Demnach werden Menschen zu spielerischen Interaktionen animiert durch: 

  • die Freude am Kreieren, Erkunden, Entdecken, Fantasieren, sinnlichen Erleben, Simulieren 
  • den Kick durch Herausforderungen, Wettkampf, Gefahr, Subversion - das Glücksempfinden, das durch spontane Sympathie und Freundschaft ausgelöst wird. 

Die Nokia Research Labs haben diese Klassifizierung noch um Erfahrungen wie z. B. Humor, Kontrolle, Pflege, Entspannung, Erotik und Komplettierung erweitert und daraus ein kartenbasiertes Brainstorming-Tool für “Design for Playfulness“ entwickelt. 

Ein Unternehmen, das den Trend zur “Playification“ schon als neues Geschäftsfeld für sich entdeckt hat, ist Lego. Unter dem Motto “Serious Play“ bietet es inzwischen Business Lego Workshops an. Deren Konzept hat Lego zusammen mit Wissenschaftlern aus Lausanne für die Geschäftswelt entwickelt. Manager nutzen hier die bunten Steinchen und Plastiktiere für ihre Strategieprozesse, für die Visualisierung von Konflikten oder für den visionären Entwurf neuer Geschäftsfelder. Dabei soll zunächst nicht psychologisiert, sondern einfach nur gebaut werden. Erst im zweiten Schritt schaut man sich die Lego-Bauten an und wertet sie aus. Der Vorteil: Die visuellen und greifbaren Aussagen sind in der Regel deutlich plakativer und auch provokanter als der normaldiplomatische “Business Talk“. So können zentrale offene Fragen und Konfliktfelder viel schneller identifiziert und anschließend zielführender diskutiert werden. Auch für die Herausbildung gemeinsamer Visionen erweisen sich die Spielsteine als hilfreich. Die Ergebnisse sind automatisch in Bildern fixiert und haften länger im Gedächtnis. 

Spielkonzepte in der Zukunftsforschung

Und wie hält es nun die Zukunftsforschung mit der Gamifizierung und Playifizierung? Die Macht des Spielens, insbesondere als Katalysator für sozialen Wandel, haben Zukunftsforscher schon früh erkannt. Als Pionier der “Future Gamification“ kann wohl der Architekt, Erfinder und Zukunftsforscher Richard Buckminster Fuller (1895–1983) gelten. Er entwickelte 1961 das “World Peace Game“, in dem die Spieler nicht gegeneinander spielen, sondern gemeinschaftlich Lösungen für Weltprobleme wie Überbevölkerung und Ressourcenverteilung finden müssen. Das Spiel wird inzwischen kommerziell von Earth Inc. als “Global Simulation Workshop“ angeboten. Mit großem Erfolg wurde das “World Peace Game“ vom US-Pädagogen John Hunter auch für Kinder adaptiert. 

Planspiele

In diesem Zusammenhang sollten auch andere Planspiele Erwähnung finden. Es gibt eine ganze Reihe computerbasierter und haptischer Spiele, die es Menschen ermöglichen, die Funktionsweisen komplexer Systeme spielerisch zu erforschen. Einen exzellenten Überblick über ein breites Spektrum von Planspielen zu verschiedenen Themen bietet die Homepage der Bundeszentrale für politische Bildung. Besonders hervorgehoben sei an dieser Stelle das kybernetische Computerspiel “Ecopolicy“ von Frederic Vester. Unter dem Titel “Ecopolicyade“ finden inzwischen regelmäßig Wettbewerbe für Jugendliche statt, bei denen sie in der Rolle von Staatschefs vor der Aufgabe stehen, ihr eigenes Land in einen “Paradieszustand“ zu führen. In Unternehmen werden Planspiele insbesondere in der Aus- und Weiterbildung von Führungskräften eingesetzt, und zwar unter dem Rubrum “Business War Games“. Ziel ist es dabei, das Unternehmen in seinem Wettbewerbsumfeld möglichst wirklichkeitsnah zu simulieren und Erfolgsstrategien zu erproben. 

Zukunftswerkstätten

In den 1970ern entwickelten die Zukunftsforscher Robert Jungk, Rüdiger Lutz und Norbert Müllert die “Zukunftswerkstatt“. Ganz im Sinne von Playification geht es bei diesem Format darum, die Fantasie der Teilnehmer anzuregen und diese für neue Lösungen bestehender Probleme zu begeistern. In der ersten Phase der Werkstatt wird ein Problem oder ein Kritikpunkt genau umrissen. Anschließend begeben sich die Teilnehmer in eine Zukunfts-Utopie-Welt, in der alles möglich ist. Ohne jegliche Restriktion kann hier von einer Welt geträumt werden, in der das betreffende Problem bereits gelöst ist. In dieser Phase werden häufig künstlerische Ausdrucksformen gewählt, insbesondere Basteln, Malen etc. Im Nachgang wird dann analysiert, was man aus der Zukunft in die Gegenwart übertragen kann bzw. welchen Weg man einschlagen müsste, um die Utopie zu realisieren. Am Ende der ein- bis zweitätigen Werkstatt gehen alle Teilnehmer mit einem selbst ausgearbeiteten Aktions- und Maßnahmenplan nach Hause. 

Foresight Engine Games

Ein erfolgreiches, auf sozialen Wandel abzielendes Future-Gamification-Beispiel aus der Gegenwart wurde vom South African Node des Millennium Project in Zusammenarbeit mit der Rockefeller Foundation entwickelt. Im April 2012 waren Menschen in aller Welt zur Teilnahme am Spiel “Catalysts for Change: Path out of Poverty“ eingeladen. Bei diesem sogenannten “Foresight Engine Game“ ging es darum, eine Vielzahl von Wegen aus der Armut zu erdenken. Neuartig daran war, dass man ein Online-Spiel für globale Realtime-Partizipation und damit sozusagen für eine gamifizierte Delphi-Umfrage nutzte. Mehr als 1600 Menschen aus 79 Ländern nahmen teil, und nach nur 48 Stunden waren 18.160 neue Ideen dafür eingegangen, wie man in armen, gefährdeten und marginalisierten Gemeinden einen Wandel anstoßen könnte. Jeder Teilnehmer konnte Karten mit jeweils einer Idee beisteuern, auf welche die anderen Mitspieler mit vier möglichen Antwortkarten reagieren konnten: 

  1. Momentum: Wenn wir diesen Weg wählen, was passiert als Nächstes? 
  2. Antagonism: Nicht einverstanden? Was stimmt nicht mit dem Vorschlag? 
  3. Adaption: Ja, aber ... wie könnte diese Idee in deiner Gemeinde oder Region anders gestaltet werden? 
  4. Investigation: Neugierig? Stelle eine Frage oder beantworte eine Folgefrage!

Der Spielmechanismus fördert die Ausarbeitung von Ideen: Je länger eine Kartenschlange, desto mehr Punkte für die Spieler. So verbesserte jede weitere Karte die ursprüngliche Idee und gab den Spielern Raum zum Diskutieren, Erweitern und Fragen. Als Pionierin von Foresight Games for Social Change gilt auch Kathi Vian. Sie leitete 2008 das onlinebasierte Forecasting Game “Superstruct“, in dem die Teilnehmer ihren jeweiligen Avatar im Jahr 2019 daran arbeiten lassen, das Ende der Menschheit bis 2042 abzuwenden. Zudem co-designte sie die Social Forecasting Platform “Foresight Engine“ des Institute for the Future in Palo Alto, eine Multiplayer-Plattform, die es ermöglicht, eine Vielzahl von Menschen in einen Foresight-Prozess einzubinden, um so von der “Wisdom of the Crowd“ zu profitieren. Ein weiteres Institut, das erfolgreich Spiele als Katalysator für sozialen Wandel erforscht und entwickelt, ist “Tiltfactor“, ein interdisziplinäres Innovationsstudio unter der Leitung von Mary Fanagan. 

Gamification im Foresight-Prozess: Nutzen und Beispiele 

Den Faktor Mensch berücksichtigen

Welchen Nutzen aber bietet der Einsatz von Gamification und Playification in Foresight-Prozessen? Corporate- und Public-Foresight-Prozesse leiden häufig unter einer gewissen “Kopflastigkeit“. Die oftmals einseitige Fokussierung auf Fakten und Zahlen ist einerseits den komplexen Fragestellungen geschuldet, kann aber andererseits auch auf den Umstand zurückzuführen sein, dass sich Zukunftsforschung in Unternehmen und politischen Institutionen lange Zeit als seriöse, nach wissenschaftlichen Maßstäben arbeitende Disziplin erst etablieren musste. Schon deshalb wird häufig zu wenig Energie darauf verwendet, sich über den Faktor Mensch im Projekt Gedanken zu machen. Es fließt viel geistige Anstrengung in die Inhalte und den methodischen Aufbau von Zukunftsprognosen, aber nur wenig Sorgfalt wird auf die Frage verwendet, wie man die verschiedenen Mitarbeiter, Abteilungen und externen Experten gewinnbringend einbinden und auf die Reise in die Zukunft “mitnehmen“ kann. Hinzu kommt, dass die Ergebnisse von Zukunftsprozessen häufig eher abstrakt bleiben – was in der Natur des Gegenstands liegt, denn die Zukunft ist per se kaum greifbar. Umso wichtiger erscheint es, die Ergebnisse der Zukunftsanalysen “mit Leben zu füllen“, um bei der Umsetzung auftretende Barrieren für den Einzelnen wie für die Organisation abzubauen. 

Gamification und Playification bilden hier natürlich kein Allheilmittel; überdies ist es auch nicht Sinn der Sache, aus jeder geistigen Beschäftigung ein Spiel zu machen. Dennoch bietet der Einsatz von Spielelementen in Foresight-Prozessen einige überzeugende Vorteile, die wir im Folgenden anhand von Beispielen aufzeigen möchten. Wir konzentrieren uns dabei insbesondere auf partizipative Foresight-Prozesse, in denen es neben einem Kern-Forschungsteam auch temporär, in der Regel im Rahmen von Workshops und Umfragen mitwirkende Teilnehmer gibt (meist Kunden und externe Experten – im Folgenden zusammenfassend als “Teilnehmer“ bezeichnet). 

Workshop-Format "Future World Café"

Den Innovations-Workshop “Future World Café“ entwickelte Z_punkt ursprünglich für ein Luftfahrtunternehmen. Bei konzeptionellen Überlegungen, wie man die Ingenieure und Manager unterschiedlicher Abteilungen und Nationen begeistern könnte, entschieden wir uns schnell für einen Rekurs auf den Kindheits- und Jugendtraum, der wahrscheinlich alle Teilnehmer einen würde: das Thema “Weltraum-Exkursion“. Die Teilnehmer wurden zu Crew-Mitgliedern eines Spaceshuttles und bekamen die Aufgabe, verschiedene Zukunftswelten zu erforschen. Logbuch-Einträge vorheriger Expeditionsteams verrieten den Teilnehmern, welche Besonderheiten es auf den jeweiligen Welten zu beachten galt; so kamen Themen wie Klimawandel, Alterung der Gesellschaft oder Verknappung von Ressourcen ins Spiel. Ziel der Session war es, den Welten-Bewohnern am Ende durch die Entwicklung neuer Produkte und Dienstleistungen Antworten auf die Herausforderungen vor Ort zu liefern.

Weg von der Inhalte-Zentrierung

Der wohl größte Vorteil einer Gamification von Foresight-Prozessen liegt darin, dass beim Blick durch die Gamification-Brille automatisch die Teilnehmer in den Fokus rücken. Eine zentrale Frage lautet dann nämlich: Wie können wir den Prozess und seine Inhalte so gestalten, dass sie die Teilnehmer begeistern, verführen und animieren? 

Zur Beantwortung dieser Frage ist es unabdingbar, sich näher mit den jeweiligen Teilnehmern und ihrer Sicht auf den Prozess zu beschäftigen. Welchen Hintergrund bringen sie mit? Ingenieure und Techniker beispielsweise “packt“ man mit anderen Gestaltungsweisen als Kommunikatoren und Marketingspezialisten. 

Wie stark ist das Interesse der Teilnehmer am Prozess? Wer sich selbst keine Vorteile vom Projekt verspricht, muss woanders abgeholt werden als die mittel- und unmittelbar vom Projektergebnis Begünstigten. Wie viel kann man Teilnehmern an inhaltlichem Detail- und Faktenwissen zumuten? Wie viel Hintergrundwissen brauchen sie, um voll einsteigen zu können, und wo beginnt möglicherweise ein Information Overkill, der schlicht überfordert und jeglichen Spaß zunichte macht? 

Fundierte, relevante Inhalte und ein sauberes methodisches Vorgehen bleiben natürlich weiterhin der Kern einer guten Foresight-Arbeit – aber etwas mehr Energie darauf zu verwenden, dass die Inhalte ansprechend vermittelt werden und der gemeinsame Workshop auch unterhaltsam ist, kann die Foresight-Szene nur bereichern. 

Zeitungsnachrichten aus der Zukunft

Eine Herausforderung stellt es dar, Menschen einzubinden, die mit dem Foresight-Prozess wenig zu tun haben und daran auch nicht unbedingt interessiert sind. Wir haben gute Erfahrungen damit gemacht, unsere Fragen jeweils in Form von Zeitungsnachrichten aus der Zukunft aufzubereiten. Zukunftsnachrichten sollten mit einem Augenzwinkern daherkommen und trotzdem die jeweils relevanten Themen aufgreifen. Kombiniert mit der Kreativtechnik “Brainwriting“ kann man mit diesem einfachen Mittel schnell viele Ideen innerhalb einer fast beliebig großen Gruppe einsammeln.

Konkret werden

Ein Bereich, in dem sich Playification-Elemente als besonders fruchtbar erweisen können, ist die Ausarbeitung von Ergebnissen. Wie eingangs beschrieben, leiden Zukunftsprozesse chronisch an “Abstrakteritis“. Nicht selten erlebt man es auf Workshops, dass nach einem Zukunftsideen-Brainstorming auf den Ergebniskarten allgemeine Forderungen à la “Mehr nachhaltige Lösungen“ erscheinen. Wahlweise können die Lösungen auch “dezentral“, “smart“ oder “regional“ sein. Beliebt ist es überdies, einen alten Begriff um 2.0 oder 3.0 zu erweitern, neuerdings auch 4.0 – zack, fertig ist die Zukunft! Zugegebenermaßen fällt es wirklich nicht leicht, konkrete Zukunftslösungen zu entwickeln. Und zwar nicht nur, weil die Zukunft selbst per Definition “noch nicht da ist“, sondern auch weil unser Gehirn bevorzugt in bekannten Mustern denkt. Hinzu kommt auch, dass man sich weniger angreifbar macht, wenn man Ergebnisse eher vage formuliert. 

Ein eleganter Weg, um dessen ungeachtet zu konkreteren Ergebnissen zu gelangen, liegt in haptischen und künstlerischen Ausdrucksformen für die Ergebnispräsentation. Wer seine Idee mit Knete, Lego, Bastelmaterial oder Playmobil-Männchen darzustellen aufgefordert ist, der kommt kaum umhin, “nachhaltige/dezentrale/smarte Lösungen“ an konkreten Beispielen festzumachen. Schließlich lassen diese sich auch leichter kneten. Im Darstellungsprozess tauchen dann zwangläufig noch viele weitere Fragen auf: Wie könnten einzelne Elemente der Idee genau aussehen? Wie stellt man den Nutzer am besten dar, und wer ist das überhaupt? Bildet den eigentlichen Kern der Idee vielleicht nicht so sehr das Produkt, sondern eher die zugehörige Dienstleistung? Dieses Vorgehen kann man nicht nur bei der Entwicklung von Produkt- und Dienstleistungsideen anwenden; auch Projektvorschläge, Visionen und sogar Szenario-Welten lassen sich künstlerisch umsetzen, etwa in Form von Bildergeschichten oder Comics. Bei eher großen und komplexen Themen, wie sie z. B. Visionen in der Regel darstellen, sollte man sich die alltäglichen Manifestationen ausmalen, die bei einer Realisierung kennzeichnend wären; sie laden eher zu einer haptischen oder visuellen Umsetzung ein. 

Auch für die Gruppendynamik bietet die Verwendung von Spiel- und Bastelmaterial merkliche Vorteile, denn es kommen dabei auch andere Leute zu Wort als in Diskussionsrunden. Werden diese nämlich von den Wortstarken dominiert, so bringen sich nun auch die eher visuellen und kinästhetischen Typen eher ein. Oftmals kneten sie beispielsweise einfach schon mal los, während die anderen noch debattieren, um dann irgendwann die fertige Kreation mit den Worten hochzuhalten: “Also, ich stelle mir vor, dass könnte dann so aussehen ...“ 

Insgesamt entsteht eine viel lockerere Atmosphäre, es wird mehr gelacht und auch die Angst vor der eigenen Angreifbarkeit sinkt. Vielleicht weil man davon ausgeht, dass sich mit Knetfiguren sowieso jeder im Raum angreifbar macht. 

Rapid Future Fabrication

In manchen Unternehmenskulturen wird der Einsatz von Bastelmaterialien nicht gern gesehen; in diesem Fall arbeiten wir von Z_punkt gern mit Livezeichnern. Schon die Anwesenheit einer Person, die die Ergebnisse visuell festhält, stachelt in der Regel zu kreativeren und auch konkreteren Ideen an. Auf die Spitze getrieben haben wir das Prinzip der kreativen Hilfestellung jedoch beim Workshop-Event “Rapid Future Fabrication“. In dieser Großgruppen-Veranstaltung haben die Teilnehmer die Möglichkeit, sich verschiedene “lebendige Werkzeuge“ für die Ausarbeitung ihrer Ideen hinzuzubuchen. Zur Auswahl stehen inhaltlich inspirierende Experten, mit denen man seine Idee ventilieren kann, aber auch spezialisierte Praktiker wie etwa Designer, Filmemacher, Theaterregisseure oder Freestyle-Rapper. Bei der “Werkzeug“-Zuteilung gilt: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Und so ergibt es sich ganz von selbst, dass die abschließende Ideenpräsentation ein buntes Potpourri aus Bildern, szenischen Darstellungen, Songs und Filmen bietet. Das Event wurde mit der Agentur für Live-Kommunikation facts+fiction entwickelt.

Faktor Mensch

Zu guter Letzt können Gamification und Playification in Foresight-Prozessen auch auf einer psychologischen und kulturellen Ebene von Vorteil sein. Die wohl mächtigsten Hemmnisse für Zukunftsprozesse sind mentaler und sozialer Natur. Auf mentale Barrieren ist die Foresight-Szene gut vorbereitet, auf soziale Barrieren hingegen weniger. Alle Zukunftsforscher und Foresight-Experten kennen die Schwierigkeit: Der menschliche Geist ist tendenziell konservativ, darauf spezialisiert, wahrgenommene Informationen zu einem bekannten Muster zu ordnen. Bietet sich keines an, wird kurzerhand das ähnlichste genommen und übergestülpt, auch wenn es kaum passt. Musterwechsel oder die Hervorbringung neuer Muster widerstrebt dem menschlichen Geist; es bedarf mithin Übung und Denkwerkzeuge, um ihn zu überlisten. In Foresight-Vorträgen und -Büchern werden daher zahlreiche Anekdoten, Zitate und Beispiele angeführt, die illustrieren, dass sich Menschen radikale Veränderungen meist nur schwer vorstellen können. So die legendäre Aussage Thomas Watsons, des damaligen Vorsitzenden von IBM, im Jahr 1943: “Ich denke, es gibt einen Weltmarkt für vielleicht fünf Computer.“ Oder die 1876 getroffene Feststellung des Chefingenieurs der britischen Post, Sir William Preece: “Die Amerikaner brauchen vielleicht das Telefon. Aber wir nicht, wir haben genügend Laufburschen.“ 

Ein weiteres beliebtes Mittel sind Rückblicke, die verdeutlichen, wie viel sich allein in der eigenen Lebenszeit verändert hat. Bedenken Sie etwa, dass vor nur 25 Jahren der Kalte Krieg noch im Gange war und die Berliner Mauer noch stand. Das Internet war noch nicht erfunden, Jugoslawien ein existierender Staat, und niemand hielt es damals für denkbar, dass Terroristen das World Trade Center angreifen könnten. Schnell wird auf diesem Wege klar, dass unser Gehirn dazu tendiert, nicht nur zukünftigen, sondern auch persönlich erlebten Wandel herunterzuspielen. 

Foresight-Methoden sind deshalb darauf ausgelegt, die Wahrnehmung des Möglichen zu erweitern und blinde Flecken aufzudecken. Darin ähneln sie den Methoden zur Überwindung mentaler Barrieren bei Lebens- und Unternehmensführung, wie sie auch von Kognitionswissenschaftlern oder “Kreativitätsgurus“ empfohlen werden. 

Im Grunde zielen all diese Methoden auf die Erweiterung der Wahrnehmung ab, auf die Suspension herkömmlicher Beurteilungskriterien, um so dem eigenen Geist über die etablierten mentalen Muster hinausgehende Informationen zuführen zu können. Dazu gehört es z. B., möglichst viele alternative Lösungs- oder Erklärungsversuche zu erdenken, ungeachtet ihrer vordergründigen Abwegigkeit. Nichts anderes unternimmt die Zukunftsforschung mit ihrer Szenariomethode. Denn die Erfahrung zeigt: Nur wenn auch abwegige (aus heutiger Sicht weniger wahrscheinliche) Zukünfte neben dem Business-as-usual-Szenario im Unternehmen bzw. in der Institution verhandelt werden können, entstehen robuste Strategien und wirklich neuartige Lösungen und Innovationsideen. 

Und wie kommt hier nun Gamification ins Spiel? Ganz einfach: Foresight-Methoden bieten eine ergiebige Basis für geistig anregende und horizonterweiternde Spiele. Wie sinnvoll der Einsatz existierender Denkwerkzeuge der Zukunftsforschung auch als “Games“ sein kann, zeigt das beschriebene Beispiel des South African Nodes; aus einer klassischen Delphi-Experten-Befragung erwuchs ein digital-interaktives, internationales “Foresight Engine Game“. Und wäre es nicht auch wünschenswert, endlich die unumgängliche, aber schrecklich mühsame Konsistenzanalyse in Szenarioprozessen zu gamifizieren? 

Neben mentalen Barrieren stehen aber auch soziale dem Denken abwegiger Zukünfte im Wege. Die Workshops finden im beruflichen Kontext statt; das sorgt für Profilierungsdruck, man muss sich positionieren und abgrenzen. Und hier zahlt sich der Einsatz von Gamification-Elementen aus: Denn im Spiel entsteht ein sogenannter “lateraler Raum“, ein Ort, an dem bestehende kulturelle und soziale Regeln vorübergehend außer Kraft gesetzt sind. Spiele haben bekanntermaßen ihre eigenen Regeln, zugunsten derer die Teilnehmer in einem vorab festgelegten nicht nur zeitlichen Rahmen von den Alltagskonventionen abzuweichen bereit sind. Ein konkretes Beispiel: Hierarchieebenen treten beim Spiel in den Hintergrund; ein Chef muss nach den gleichen Regeln spielen wie die Mitarbeiter. Das Spiel kann auch Hierarchien umkehren oder neue schaffen. So übernehmen etwa in Business Wargaming Sessions normale Mitarbeiter die Rollen von Staatschefs oder CEOs von Konkurrenzunternehmen. Zudem kann spielerisch vorgeben werden, dass ausnahmsweise die verrückten, unrentablen oder gar für das eigene Geschäftsmodell gefährlichen Ideen gesammelt und ausgearbeitet werden müssen. Im Spiel wird so möglich, was im normalen beruflichen Kontext undenkbar wäre. 

Iceberg Sessions

Das Workshop-Format “Iceberg Session“ von Z_punkt stellt ganz bewusst die beruflichen Konventionen auf den Kopf. Die Mitarbeiter tun sich in Kleingruppen zusammen und nehmen die Rollen verschiedener gesellschaftlicher Akteure aus dem Firmenumfeld ein. Ihre Aufgabe ist es, sich gegen das eigene Unternehmen zu verschwören und es mithilfe ihres Insiderwissens möglichst erfolgreich zu schädigen. Erst wenn alle Gruppen sich als “Bösewichte“ richtig ausgetobt haben, wechseln sie wieder die Seite: Nun bekommen sie die Aufgabe, strategische Ableitungen zu treffen.

Ausblick

Unternehmen und Organisationen können in ihrer strategischen Zukunftsarbeit vom Gamification-Trend profitieren. Notwendig ist in jedem Fall eine sensible Anpassung an die spezifischen Ziele und Fragestellungen, an den Charakter der angesprochenen Gruppe und an die Organisationskultur. Wir möchten Ihnen Mut machen, sich auf neue Ansätze und Erfahrungen einzulassen, besonders auch dann, wenn Sie ihren Foresight-Prozess in einem “ernsthaften“ und gegenüber Zukunftsthemen eher verschlossenen organisatorischen Umfeld gestalten. Unsere Erfahrung aus über 15 Jahren Foresight-Praxis zeigt, dass sich auch kritische Führungskräfte und misstrauische Experten von einem inhaltlich anspruchsvollen, aber spielerisch inszenierten Workshop-Setting begeistern lassen. Wagen Sie doch mal ein Spiel!