Den Kunden der Zukunft erlebbar machen
Der Siegeszug des Design Thinking hat die Arbeit mit Personas in den Unternehmen populär gemacht. Die Methode stammt ursprünglich aus der IT-Entwicklung, wo sie schon früh eingesetzt wurde, um Kundenanforderungen an Software-Systeme frühzeitig zu identifizieren und zu berücksichtigen. Heute arbeitet eine Vielzahl von Unternehmen — eher im B2C-, aber auch im B2B-Bereich — mit Personas. Kein Wunder, denn: Personas funktionieren! Wir zeigen zunächst, warum das so ist. Dann gehen wir auf die Frage ein, wie aus Personas – die herkömmlicherweise im Hier und Jetzt verankert sind — Future Personas werden: Menschen aus der Zukunft, die Impulse für Innovation und Marketing in einer mittel- bis langfristigen Perspektive liefern.
Perspektivwechsel: In Kundenlebenswelten eintauchen
Jedes Unternehmen kennt die Frage: Wer ist eigentlich unser Kunde? Wie können wir ein Gespür für seine Bedürfnisse entwickeln? Personas helfen, die Lebenswelten der Kunden für das Unternehmen greifbar zu machen. Sie tragen zudem zum Austausch und zur Verständigung über diese Welten bei. Und sie aktivieren eine zentrale Ressource, die das Design Thinking zurecht als wichtige Quelle der Innovationsarbeit ansieht: die Empathie.
Personas übersetzen abstrakte Zielgruppenmodelle oder Bedürfnisfelder in konkret nachvollziehbare Lebenszusammenhänge, die auf einer sachlichen, aber auch auf einer emotionalen Ebene funktionieren. Wer an einem Persona-Workshop teilnimmt, wird schon bald Sätze wie diesen hören: „Tolle Idee! Das wäre etwas für (die Persona) Markus.“ Aus der Persona ist in den Köpfen der Workshop-Teilnehmer eine Person aus Fleisch und Blut geworden.
Die Persona-Methode zehrt also von der Kraft des Storytelling. Menschen lieben Geschichten. Neurowissenschaftliche Untersuchungen legen nahe, dass unser Gehirn auf Fiktionen ähnlich intensiv reagiert wie auf tatsächliche Erlebnisse. Wohl deshalb erinnern wir in Geschichten gekleidete Informationen deutlich besser als bloße Faktensammlungen. In Geschichten entwerfen wir simulierte Welten, die uns helfen, unser Leben besser zu verstehen. Wir erschließen uns die Welt in Form von Geschichten.
Personas sind deshalb Einladungen, in eine — mehr oder weniger — fremde Welt einzutauchen: in die Welt des Kunden. Dabei regen sie zum Perspektivwechsel an: die Sicht des Kunden tritt in den Vordergrund. Das schafft den nötigen Abstand von den eigenen Produkten und Services, der den Weg zu innovativen Ansätzen öffnet. Und die nötige Nähe zu den tatsächlichen Bedürfnissen des Kunden, die für passgenaue Lösungen nötig ist.
Wer ist „der Kunde“, von dem hier die Rede ist? Wie viele Denkwerkzeuge sind Personas auch und gerade ein Instrument der Komplexitätsreduktion. Jeden einzelnen Verbraucher kennenzulernen ist nicht möglich. Den Blick auf einen einzigen „protoypischen Konsumenten“ zu verengen, wie dies in der Vergangenheit zum Teil üblich war, hieße umgekehrt, die Lebenswirklichkeit der Kunden unzulässig zu verengen. Der Persona-Ansatz geht hier einen Mittelweg, fokussiert er doch auf „Archetypen“, bringt also eine gewisse Zuspitzung mit sich, ohne dabei das Ganze aus dem Blick zu verlieren.
Future Personas: Den Kunden von morgen antizipieren
Aus Foresight-Sicht ist die folgende, selten gestellte Frage zentral: Wie lässt sich sicherstellen, dass Personas nicht nur heutige, sondern zukünftige Lebenswelten abbilden? Je nach dem Planungshorizont, mit dem Unternehmen arbeiten (siehe auch unser Interview mit Andreas Meinheit von der Audi Trendforschung), ist diese Frage entscheidend für den Erfolg des Persona-Ansatzes. Future Personas, wie wir sie in unserer Arbeit einsetzen, werden deshalb in das Zukunftsbild des Unternehmens eingebettet. Zwei Ansätze sind möglich: der trendbasierte Weg entwickelt Personas aus einer Analyse kultureller und lebensweltlicher Trends heraus. Der szenariobasierte Weg bettet Personas in holistische Szenarien auf Basis plausibler Annahmen ein. So lassen sich bei der Persona-Entwicklung im Rahmen entsprechender Szenarien auch Trendbrüche und Disruptionen berücksichtigen - eine Option, für die der trendbasierte Ansatz keinen Spielraum bietet.
Darüber hinaus versteht es sich, dass Future Personas eine valide empirische Basis benötigen. In der Praxis können die von vielen Unternehmen genutzten Sinus-Milieus (oder ähnliche Modelle) als Anker in der Gegenwart dienen. Dieses Vorgehen bietet zwei Vorteile: Zum einen kommt über das Milieu-Modell die relevante Gesamtbevölkerung als Untersuchungsgröße in den Blick. Zum anderen erlaubt der Milieu-Ansatz vorsichtige quantitative Aussagen über die zukünftige Größe der durch die Personas charakterisierten Gruppen. Dabei tragen wir auch dem zukünftigen Wandel der Zielgruppen Rechnung. Die Markt- und Sozialforscher des Sinus-Institutes justieren ihr Milieu-Modell kontinuierlich nach, um Veränderungen in der Gesellschaft gerecht zu werden. Bei der Arbeit mit Future Personas gilt es, diese Dynamik vorwegzunehmen und in das Persona-Set einfließen zu lassen.
Living Scenarios: Zukunftsbilder erlebbar machen
Der zweite oben genannte Weg, die Entwicklung von Personas aus einem Szenarioprozess heraus, ist sicherlich der Königsweg. Die beiden Methoden — Szenariotechnik und Persona-Ansatz — ergänzen sich hervorragend, basieren doch beide im Kern auf der Entwicklung von Narrativen. Die Verankerung von Future Personas in einem lebensweltlichen Szenario dient zudem als Korrektiv für die zunächst rein gegenwartsbezogene Markt- und Lebensweltenforschung.
Die Szenarioarbeit ist herkömmlicherweise eher analytisch orientiert — sie arbeitet mit kritischen Unsicherheiten, untersucht Zukunftsprojektionen auf ihre Konsistenz, und betrachtet die Wechselwirkungen verschiedener zukunftsprägender Faktoren. Diese Arbeit bleibt unverzichtbar. Vor allem Unternehmen aus endkundennahen Branchen benötigen jedoch häufig stärker lebensweltlich angereichertes Zukunftswissen. Dem tragen wir mit unserem „Living Scenarios“-Ansatz Rechnung, bei dem die Verzahnung von Zukunftsbild und Persona-Portfolio eine entscheidende Rolle spielt.
Leitmotive der Arbeit mit Living Scenarios sind Lebendigkeit und Erlebbarkeit. Die Kommunikation von Szenario-Inhalten spielt eine zentrale Rolle – innerhalb des Projektteams, aber auch mit weiteren Stakeholdern im Unternehmen. Im Living-Scenario-Workshop unterstützen Live-Zeichner und Persona-Rollenspiele die Arbeit. Personas werden audiovisuell und im Raum zum Leben erweckt: von professionellen Schauspielern eingesprochene Persona-Dialoge, illustrierte Storyboards („A Day in the Life“) und die Gestaltung immersiver „Future Spaces“ können zum Einsatz kommen.
Innovations-Sprungbretter: Neue Impulse setzen
Die Future-Persona-Methode, wie wir sie anwenden, dient im Kern dazu, Innovations-Sprungbretter zu bauen, also Impulse für zukunftsorientierte Produkte, Dienstleistungen, Marken- und Marketing-Strategien zu setzen. Wie entstehen nun aus der Arbeit mit Persona nutzbare Ergebnisse, die es dem Unternehmen erlauben, neue Wege zu gehen?
Eine Persona wirkt zunächst wie ein Magnet, der Ideen für neue Produkte und Services anzieht, ordnet und zu bündeln in der Lage ist. Was ist der Persona wichtig? Wo drückt sie der Schuh? Die Identifikation mit der Persona hilft dabei, Ideen hervorzubringen, die ausreichend konkret sind und reale Kundenbedürfnisse bedienen. Dabei bedienen wir uns aus einer Toolbox von Methoden, die sich unserer Erfahrung nach hervorragend mit dem Persona-Ansatz vertragen, z.B. Customer Journeys, „Jobs to be Done“ oder die Modellierung von Value Propositions.
Darüber hinaus eignen sich Personas für eine erste Validierung von Ideen. In einer zusätzlichen Iteration werden Ideen-Prototypen aus der Perspektive der Persona getestet und verfeinert. Beides – die Generierung und die Validierung von Ideen mit Hilfe von Personas – muss nicht auf einzelne Workshops beschränkt bleiben. Ist ein Persona-Set im Unternehmen etabliert, werden die Personas zu guten Bekannten, die mit dem Unternehmen verwachsen sind und deren Perspektive z.B. Produktdesigner ganz selbstverständlich einnehmen, wenn sie neue Interfaces gestalten. Personas eignen sich ferner aus Marketing-Gesichtspunkten, weil sie ein konkretes Bild liefern, wie und mit welchen Botschaften welche Zielgruppe an welchen Kontaktpunkten erreicht werden kann.
Future Persona Management: Systematik statt Wildwuchs
Personas sind seit einiger Zeit „en vogue“. Häufig werden Personas in unterschiedlichen Unternehmensfunktionen parallel entwickelt. Das birgt die Gefahr eines gewissen Wildwuchses. Für einen ersten Inspirations-Workshop ist es absolut sinnvoll, Personas eher aus dem Bauch heraus und in einem überschaubaren Rahmen zu entwickeln — sozusagen als „Proof of Concept“. Mittel- bis langfristig birgt der Ad-hoc-Zugang jedoch auch Gefahren. Ein zentrales Ziel der Nutzung von Personas ist es, eine Verständigung über wichtige Kundengruppen im Unternehmen zu erreichen: Stakeholder aus unterschiedlichen Unternehmensbereichen kommen ins Gespräch und bekommen Gelegenheit, sich intensiv über ihre Perspektive auf den Kunden auszutauschen. Wenn unterschiedliche Unternehmensbereiche ihr eigenes „Persona-Süppchen“ kochen, wird dieser Effekt unterlaufen.
Um ein langfristig orientiertes Persona-Management im Unternehmen zu etablieren, sollte der Zugang zu Personas deshalb auf eine solidere und über den Tag hinaus tragfähige Basis gestellt werden. Das gilt umso mehr, wenn es um die Entwicklung von Future Personas geht, die das Unternehmen auf dem Weg zu neuen Märkten begleiten sollen. Dabei gibt es nicht den einen Zugang zum Future Persona Management, der für alle Unternehmen gleichermaßen funktioniert. Wir nutzen deshalb je nach Aufgabenstellung und Unternehmenskontext unterschiedliche methodische Zugänge (vgl. die Grafik) – neben der bereits erwähnten Arbeit mit Szenarien und Milieus, die für einen systematisch-ganzheitlichen Ansatz stehen, können auch qualitative Ansätze aus der Konsumenten-Ethnographie und dem Trend-Scouting fruchtbar für die Entwicklung von Personas sein. Dabei stehen die traditionellen Methoden der Sozialforschung für eine Verankerung der Zukunftsarbeit im Hier und Jetzt, während die Methoden der Trend- und Zukunftsforschung einen antizipativen Anspruch verfolgen, also Zukünftiges vorwegzunehmen versuchen. Beides sollte nicht gegeneinander ausgespielt, sondern im Gegenteil zu einem Ganzen verwoben werden.