Zukünftige Wertelandschaften in Deutschland
Z_punkt und Prognos bilden als unabhängige Dienstleister das Zukunftsbüro im Foresight-Prozess III des BMBF. Im Rahmen des Foresight-Prozesses führt das Zukunftsbüro auch Vertiefungsstudien zu unterschiedlichen zukunftsrelevanten Themen durch. Die erste Vertiefungsaktivität war die Erstellung einer Studie zur Zukunft der Wertvorstellungen in Deutschland. Die Studie wurde im Zeitraum zwischen Juli 2019 und Dezember 2019 erstellt, also noch vor Beginn der COVID-19-Pandemie im Frühjahr 2020. Um etwaige nachhaltige Einflüsse der Pandemie auf die Wertelandschaften untersuchen zu können, ist eine Aktualisierung im Frühjahr 2021 geplant.
Die Studie kann auf www.vorausschau.de in Kurzfassung oder Langfassung kostenlos heruntergeladen werden.
Das Thema Werte ist ein komplexer Untersuchungsgegenstand. In der Wissenschaft gibt es verschiedene Theorien zum Wertewandel sowie unterschiedliche Ansätze zur Kategorisierung einzelner Werte und Wertegruppen. Daher war es im ersten Schritt zunächst einmal notwendig, Arbeitsdefinitionen zu entwickeln, um auf dieser Basis Ableitungen für mögliche zukünftige Entwicklungen treffen zu können. Hierfür wurden insgesamt zehn Wertegruppen identifiziert: Soziale, gemeinschaftsbezogene, bewusstseinsorientierte, selbstbestimmungsorientierte, gestaltungsbezogene, politikorientierte, leistungsbezogene, normorientierte, hedonistische und traditionsorientierte Werte.
Für die Studie wurden verschiedene aufeinander aufbauende Teiluntersuchungen durchgeführt.
Empirische Erhebungen
Zukunft wird maßgeblich durch bestehende Zukunftserwartungen in der Gegenwart geprägt. Daher führte das Zukunftsbüro auch eigene empirische Erhebungen durch, um bestehende Zukunftsvorstellungen abzufragen wie etwa zwei vom Institut für Demoskopie Allensbach durchgeführte repräsentative Meinungsumfragen, an denen jeweils knapp 1.300 Bürgerinnen und Bürger teilnahmen.
Zusätzlich zu den Befragungen der Bürgerinnen und Bürger wurden auch einzelne Fragestellungen in vertiefenden Interviews mit Expertinnen und Experten diskutiert. Zudem führte das Zukunftsbüro eine Fokusgruppe mit Jugendlichen durch. Darüber hinaus wurde auch das Internetnutzungsverhalten von verschiedenen Bevölkerungsgruppen mit unterschiedlichen Wertvorstellungen erfasst.
Dabei zeigte sich jedoch in vielen Befragungen, dass es den Befragten häufig schwerfiel, sich von Gegenwartserfahrungen zu lösen. Zukunftserwartungen sind vom Zeitgeist, von dominanten Diskursen und aktuellen Situationen und Problemlagen geprägt.
Obwohl der Wunsch nach mehr Gemeinschaft und Miteinander in der Bevölkerung besteht, zeigte sich, dass von der Gesellschaft als Ganzes ein gegenteiliges Bild gezeichnet wird: Eine Mehrzahl geht davon aus, dass den Mitmenschen gerade die gewünschten Werte zukünftig weniger wichtig sein werden. Die Gründe dafür sind vielschichtig, zum Beispiel soziale Disparitäten oder eine als alltagsfern empfundene Politik. Daher schätzen die befragten Bürgerinnen und Bürger, dass sich der Wunsch nach einer solidarischen und gerechten Gesellschaft in der Zukunft eher nicht erfüllen wird. Dabei zeigte sich eine (paradoxe) Divergenz: So blicken viele Menschen durchaus optimistisch in die eigene Zukunft, sind aber pessimistisch, was die Entwicklung der Gesamtgesellschaft angeht. Das negative Gesellschaftsbild kann auch auf mediale Einflüsse zurückgeführt werden – beispielsweise durch die Entstehung von Filterblasen, die einzelne soziale Gruppen aus dem gesamtgesellschaftlichen Miteinander ausschließen. Als übergeordnete Erkenntnis kann jedoch festgehalten werden, dass der Wunsch nach einem „Wir“-Gefühl stärker wird. Unklar bleibt jedoch, wie die „Wir“-Kultur etabliert werden kann und wer genau sich hinter diesem „Wir“ verbirgt.
Gesellschaftsszenarien: Deutschland in den 2030er Jahren
Die Analyse von Zukunftsentwicklungen und damit auch sich wandelnder Wertvorstellungen erfolgt meist durch den Blick in den „Rückspiegel“. Mithilfe von Querschnitts- und Longitudinalstudien wird der Wertewandel ausgehend von seinem historischen Verlauf analysiert. Um zukunftsgerichtete Aussagen treffen zu können, werden im Rahmen von Wertestudien in der Regel subjektive Zukunftserwartungen abgefragt und an aktuell beobachtbaren Trendentwicklungen gespiegelt.
Diese Zukunftserwartungen und -hoffnungen sind für die Ausgestaltung der Zukunft zwar wichtig, da sie unmittelbares Handeln prägen können – etwa bei Investitionsentscheidungen. Sie sind jedoch bei weitem nicht die alleinigen Treiber des Wandels. Angesichts der prinzipiellen Unsicherheit zukünftiger Entwicklungen und einer zunehmenden systemischen Komplexität ist es im Foresight-Kontext daher zielführend, zusätzlich zur Extrapolation der Erwartungshaltungen und Zukunftswünsche hinaus eine Exploration alternativer Zukünfte über Szenarien durchzuführen, um ein möglichst umfassendes Zukunftsbild zu generieren, das alternative Entwicklungsverläufe berücksichtigt. Daher wurden im Rahmen der Studie mittels explorativer Szenariotechnik insgesamt sechs Zukunftsszenarien mit unterschiedlichen Werte- und Lebenswelten entworfen.
Szenario 1: Der europäische Weg
Wer von Deutschland in den 2030er-Jahren spricht, spricht auch über Europa. Die EU und ihre Mitgliedstaaten verfolgen in einem harten globalen Wettbewerb eine selbstbewusste und eigenständige Industriepolitik. Wichtige Pfeiler der EU-Politik seit den 2020er-Jahren sind neu geschaffene, leistungsfähige europäische Innovationszentren in strategischen Sektoren (wie Künstliche Intelligenz, Raumfahrt etc.), die in unmittelbarer Nähe zu europäischen Forschungszentren und führenden Universitäten angesiedelt werden. Gleichzeitig werden europäische Lösungen für Produktion und Fertigung gesucht, nachdem weltweite Krisen gezeigt haben, wie instabil globale Lieferketten sein können. In der deutschen Bevölkerung ist die Zustimmung zur EU konstant hoch. Themen wie der Umweltschutz sind aufgrund des fortschreitenden Klimawandels wichtig und bestimmen die politische und wissenschaftliche Agenda. Aber auch soziale Fragen prägen den europäischen Weg: Die Entstehung hochqualifizierter Jobs macht Einkommensunterschiede noch deutlicher, die Nachfrage nach qualifizierten Fachkräften steigt weiter. Daher schafft die EU einen Weiterbildungsfonds, der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern berufliche Fortbildungen ermöglicht. Sie sollen dem automatisierungsbedingten Wegfall von Arbeitsplätzen vorsorgen. Die Wertelandschaft im Szenario des europäischen Wegs ist geprägt von einer Europäisierung sowohl individueller Lebenswelten als auch der Gesellschaft insgesamt. Gemeinschaftsbezogene Werte gewinnen an Bedeutung, da die identitätsstiftende Komponente Europa hinzukommt und der Wunsch, einer starken Gemeinschaft anzugehören, immer größer wird. Neben diesem „Europa-Patriotismus“ werden jedoch auch leistungsbezogene Werte wichtiger. Europa soll im globalen Wettbewerb mithalten. Damit verbunden ist auch die Entwicklung nachhaltiger Technologien als wichtiger, zukunftsweisender Wirtschaftszweig, der durch das wachsende Umweltbewusstsein in der EU in den Fokus rückt.
Szenario 2: Wettbewerbsmodus
Deutschland erfährt in den 2030er-Jahren eine Phase neuer ökonomischer Liberalisierung. Die Handlungsmaximen eines fairen Wettbewerbs und Eigeninitiative führen zu neuer wirtschaftlicher Dynamik. Die leitenden Prinzipien der ökonomischen Liberalisierung sind fairer Wettbewerb, gleiche Ausgangs-bedingungen für alle, Eigeninitiative, freie Entfaltung und Eigenverantwortung: Werte, die durch das persönliche Haftungsprinzip bestärkt werden. Während das Wirtschaftswachstum besonders in den Bereichen Bildung und Forschung stabil ist, verschärft sich die Situation an anderen Fronten: Der Klimawandel und Umweltprobleme nehmen drastisch zu, Extremwetterperioden werden häufiger. Das bedeutet auch, dass Ressourcen knapper werden und Lösungen, die sich an den Prinzipien der Kreislaufwirtschaft orientieren, sind gefragter als je zuvor. Auch der Fachkräftemangel in Deutschland bleibt weiterhin bestehen, wodurch Arbeitsprozesse zunehmend automatisiert werden. Aber nicht nur wirtschaftlich werden Prozesse und Strukturen effizienter: Auch privat orientieren sich die Menschen immer stärker an Leistungsprinzipien, was unter anderem durch eine gesunde Lebensweise und eine bewusste Ernährung zum Ausdruck kommt. Diesem schnellen Wandel sind jedoch nicht alle gewachsen: Stresserkrankungen und Depressionen steigen kontinuierlich, viele Menschen können beim hohen Tempo der Arbeitswelt nicht mehr mithalten. Die persönliche Gesundheit, Eigenverantwortung und Selbstverwirklichung stehen in einer vom Individualismus geprägten Gesellschaft an oberster Stelle. Gleichzeitig werden auch kreative Prozesse wichtiger, die immer mehr auch von Künstlicher Intelligenz unterstützt werden. Bewusstseinsorientierte Werte werden individualisiert, ökonomisiert und dadurch neu aufgeladen: Klima- und Umweltschutz werden vorrangig in Geschäftsmodellen gedacht – zum Beispiel durch den Handel mit Klimazertifikaten.
Szenario 3: Rückkehr der Blöcke
Abschottung statt Exportnation: In den 2030er-Jahren ist Deutschland geprägt von sozialen Herausforderungen und einem schwierigen geopolitischen Umfeld. Die Welt ist geprägt von neuen Mauern. Globale Wertschöpfungsketten kollabieren, auch die Weltwirtschaft stagniert. Durch die zunehmende Unsicherheit rückt Deutschland mit verlässlichen europäischen Partnerstaaten verstärkt im Bereich der Sicherheitskooperation zusammen. Soziale Strukturen geraten durch die immer stärkeren Einkommensunterschiede ins Wanken, der Mittelstand erodiert – es bildet sich eine sogenannte „Sanduhr-Gesellschaft“. Die Folgen sind unter anderem fehlende Chancengleichheit, gesellschaftliche Zersplitterung und ein für Störungen leicht anfälliges politisches System. Themen wie Migration, Diversität und familiäre Strukturen werden relevanter, andere – wie zum Beispiel der Klimawandel – als Konfliktfaktor abgeschwächt, weil die Auswirkungen in Deutschland weniger spürbar sind als in anderen Teilen der Welt. Konstant bleibt der Fachkräftemangel in Zukunftsbranchen, der die Wirtschaft nachhaltig schwächt. Eine zunehmende Technologisierung zeigt auf dem Arbeitsmarkt erste Wirkung: Der Staat investiert zunehmend in Robotik und Künstliche Intelligenz – und auch in die digitale Verteidigung und Biotechnologie im militärischen Kontext. Damit einher geht die Angst vor einem „Cybergeddon“ – also eine gewaltsame Umwälzung, die durch Sabotage von Computernetzwerken ausgelöst wird. Es folgt ein digitales Aufrüsten für den Cyberkrieg, was unter anderem dazu führt, dass sowohl gefühlte als auch reale Sicherheit und Stabilität sinken. Abweichend von der staatlichen Nutzung wird Technik im Alltag der Menschen eher zurückhaltend eingesetzt. Durch den Rückzug ins Private rücken Familien und Nachbarschaften zusammen. Gleichzeitig wird der Ruf nach mehr gesellschaftlichem Zusammenhalt und Fortschritt lauter – auch im Hinblick auf die stagnierende Lebenssituation der deutschen Bevölkerung. Durch die soziale Spaltung entsteht eine „Demokratie der Wohlhabenden“. Bestimmte Themen sind demnach nur für diese gesellschaftliche Gruppe relevant und möglich, beispielsweise ein ausgeprägtes Umwelt- und Gesundheitsbewusstsein oder das Ausleben selbstbestimmungsorientierter Werte.
Szenario 4: Tempounterschiede
Ungewollte Bumerangeffekte: In den 2030ern hat der Standort Deutschland infolge geringer Reformaktivität an Attraktivität verloren, während die gesellschaftliche Polarisierung zugenommen hat. Deutschland ist in den 2030er-Jahren geprägt von Ungleichheiten. So sind einige Unternehmen in den Metropolregionen hochinnovativ und im globalen Wettbewerb gut aufgestellt. Die ländlichen Gegenden verlieren jedoch durch fehlende Infrastruktur und Investitionen an Wettbewerbsfähigkeit. Strukturschwächen verfestigen sich, die Kluft zwischen Stadt und Land wird größer. Dafür ist auch die zunehmende Automatisierung verantwortlich. Steigende Arbeitslosenzahlen sorgen für einen andauernden Krisenbewältigungsmechanismus der Bevölkerung. Lediglich die neue obere Mittelschicht profitiert vom Produktivitätszuwachs, der durch automatisierte Arbeitsabläufe erreicht wird. Gleichzeitig spaltet sich die europäische Meinung bei zentralen Themen wie Migration, Klimaschutz und Außenpolitik. Es gibt jedoch auch positive Aspekte der zunehmenden Technologisierung, die die Menschen mehr und mehr als entlastend wahrnehmen. Technik wird immer häufiger auch in den Alltag integriert, zum Beispiel durch digitale Assistenten. Was aus den „Tempounterschieden“ folgt, ist eine starke Ausdifferenzierung der Wertelandschaften. Die gesamtgesellschaftliche Perspektive verliert an Bedeutung, dafür werden kleinere Gemeinschaften immer wichtiger und die Abgrenzung zu anderen Kleingruppen markanter. Auch beim Thema Umweltschutz setzen sich gemischte Haltungen durch. Während dieser einerseits als wichtig angesehen wird, sind andererseits Flugreisen für die persönliche und berufliche Weiterentwicklung das Mittel der Wahl. Diese Einstellung spiegelt sich auch in den leistungsbezogenen Werten wider. Materieller Wohlstand wird nur noch vererbt und kann nicht selbst erarbeitet werden. Immaterielle Werte gewinnen dadurch im Vergleich zu materiellen wieder an Bedeutung, da hier die wahrgenommene Leistung eher aus eigener Kraft erfolgt.
Szenario 5: Das Bonus-System
Ein Punktesystem als zentrales politisches Steuerungsinstrument bestimmt das Deutschland der 2030er-Jahre. Trotz freiwilliger Basis und demokratischer Spielregeln erzeugt es sozialen Druck zur Teilnahme, zum Beispiel über den ständigen Wettbewerb in sozialen Netzwerken. Zu Beginn noch hoch umstritten, stößt das Bonuspunktesystem in den 2030er-Jahren größtenteils auf Zustimmung. Es verankert neue Normen im Alltag, die vorher so nicht möglich waren. Auch die partizipative Erarbeitung der Spielregeln sorgt für eine größere Akzeptanz in der Bevölkerung. Die Zustimmung zum Bonus-System wächst besonders im Hinblick auf die steigende Dynamik des Klimawandels: Eine Punktebewertung – zum Beispiel des ökologischen Fußabdrucks – hilft dabei, das Verursacherprinzip transparent zu machen. Auch für den Arbeitsmarkt, der anhaltend unter dem Fachkräftemangel leidet, ist das Bonus-System hilfreich. So werden Qualifizierungspotentiale erfasst und die räumliche Mobilität der Arbeitskräfte effizient organisiert. Die Schattenseiten: Niedrige Punktestände aufzuholen, ist schwierig. Das Punktesystem wird dennoch nur von wenigen infrage gestellt, die sich in ihrer Position nicht repräsentiert sehen. Aus diesem Grund entbrennen immer wieder hitzige Debatten über die konkrete Ausgestaltung und Anpassung des Systems, über die direkt abgestimmt werden kann – und die zugleich auch vor den Gerichten ausgefochten werden. Obwohl das Prinzip der Freiwilligkeit vor der Einführung des Punktesystems zentrales Diskussionsthema war, betonen Kritikerinnen und Kritiker auch nach dessen Einführung immer wieder, eine freiwillige Teilnahme sei nur „Augenwischerei“. Denn: Jene Bürgerinnen und Bürger, die freiwillig auf ihr Wahlrecht verzichten, müssen trotzdem mit den Mehrheitsentscheidungen leben. Die Kluft zwischen Befürwortenden des Punktesystems auf der einen sowie dessen Gegnerinnen und Gegnern auf der anderen Seite wird größer. Gleichzeitig gleichen sich die Wertesets der aktiv am System Teilnehmenden immer mehr an. Dadurch findet das Punktesystem in den 2030er-Jahren bei der großen Mehrheit Zustimmung: Nach dem Empfinden vieler nimmt es in einer komplexeren und ausdifferenzierteren Gesellschaft eine verbindende Orientierungsfunktion für verschiedene gesellschaftliche Gruppen ein. Durch die Anreize gewinnen leistungsbezogene Werte an Relevanz und auch soziale Tätigkeiten werden aufgewertet, indem sie langfristig zu Boni führen. Der eigene Punktestand wird damit zum Ausdruck der eigenen Leistung, des Erfolgs und des Lebensstandards. Für viele wird er auch Ausdruck persönlicher Sicherheit – und steht damit im Kontrast zur Ansicht der Individuen, die nicht am Punktesystem teilnehmen: Sie betonen als Gegenposition die Selbstbestimmung jenseits der Abhängigkeiten eines Bonussystems.
Szenario 6: Ökologische Regionalisierung
Die Marktwirtschaft ist in den 2030er-Jahren in Deutschland sozial-ökologisch ausgerichtet. Als neue zentrale Indikatoren, an denen sich fast die gesamte Gesellschaft orientiert, gelten unter anderem Nachhaltigkeit, Lebensqualität und „Zeitwohlstand“. Gemäß der ökonomischen Parameter, die noch zu Beginn der 2020er-Jahre dominierten, hat die Wirtschafts- und Kaufkraft in Deutschland stark nachgelassen, jedoch haben sich Wahrnehmungen und Einstellungen vieler Menschen in den 2030er-Jahren stark verändert: Materieller Wohlstand und Konsum rücken in den Hintergrund. Diese tiefgreifenden Veränderungen sind eine Reaktion auf die massiven Auswirkungen des Klimawandels, die vermehrt von Hitzewellen, Hochwassern, schweren Stürmen und lokaler Wasserknappheit geprägt sind. Die Bevölkerung sieht darin auch eine Handlungsschwäche der Politik – und bildet selbst lokale Basisbewegungen, die teilweise aus Netzwerken der Fridays-for-Future-Gründungsmitglieder entstehen. Unter anderem setzt sich nun die zentrale Plattform „Everydays for Future!“ für effektiveren Klimaschutz ein. Lokale Verwaltungen ziehen nach: Gemeindevorstehende fordern Bürgerinnen und Bürger dazu auf, sich aktiv an der Gestaltung von Klimaschutzideen zu beteiligen. Deutschland befindet sich im Aufbruch in Richtung einer Gesellschaft, in der soziales Engagement und ökonomische Gleichheit tragende Rollen spielen. Und auch Wohlstand wird neu definiert: als Gewinn an Lebensqualität, Nachhaltigkeit und „Zeitwohlstand“. Die Wirtschaft reagiert gespalten auf diese neuen Trends. Während sich einige Unternehmen für eine Verlegung von Arbeit ins Ausland entscheiden, richten andere wiederum ihre Produktion nach neuen Nachhaltigkeitsmustern aus und leisten dafür höhere Klimaschutzabgaben. Die EU-Kommission sieht in der „German Transformation“ einen wichtigen Beitrag zur Erreichung der Ziele des European Green Deals, etwa der Klimaneutralität bis 2050. Die Wertelandschaft der 2030er-Jahre steht im Zeichen von sozialer Teilhabe und ökonomischer Gleichheit. Einfache Dienstleistungen und soziale Tätigkeiten werden immer mehr wertgeschätzt, weil sie für ein gutes und gesundes Miteinander unverzichtbar sind. Auch die Arbeit an sich wird verstärkt gemeinschaftsorientiert und sinnstiftend: Automatisierung wird nicht mehr als „Job-Killer“ wahrgenommen, sondern gibt den Menschen vielmehr die Freiheit, ihre Regelarbeitszeit zu senken und dadurch mehr Freiräume für Weiterbildung und Selbstverwirklichung zu schaffen.
Zeit für sich selbst gewinnt an Wert und prägt den persönlichen Wohlstand. Klimafreundliches Handeln – zum Beispiel bei der Ernährung und in der Digitalisierung – steht für viele an erster Stelle. Vermehrt wer-den Sinnfragen gestellt, Geld und Konsum sind nicht mehr wegweisend. Vielmehr arbeiten die Menschen, um möglichst selbstbestimmt leben und erleben zu können. Da eine Arbeitszeitsenkung jedoch nicht in allen Branchen möglich ist, werden auch die sozialen Unterschiede zwischen den verschiedenen Branchen und Berufsgruppen größer. Die Bevölkerung zieht sich mehr und mehr in ländliche Gegenden zurück und Kleinstädte werden wiederbelebt. Hier wird die eigene Selbstbestimmung teilweise untergeordnet, da eine Verantwortung gegenüber der lokalen Gemeinschaft besteht: Es wird erwartet, dass man seine Kompetenzen bestmöglich zum Wohle der Allgemeinheit einbringt. Offenheit für Neues, Aufgeschlossenheit, Kreativität und Neugierde sind Grundvoraussetzungen, um ein anerkanntes Mitglied dieser ökologisch regionalisierten Gesellschaft der 2030er-Jahre zu werden.
Fazit
Der in der Studie aufgezeigte Möglichkeitsraum unterschiedlicher Entwicklungsverläufe macht deutlich, dass das Thema Wertewandel – wie auch die Zukunft insgesamt – mit großer Unsicherheit behaftet ist und sich je nach gesellschaftlicher Dynamik in sehr unterschiedliche Richtungen entwickeln könnte. Allgemeingültige Wertemuster können deshalb nicht identifiziert werden, da die Zukunft als offener und breiter Möglichkeitsraum gedacht werden muss. In diesem Kontext ist es möglich, dass der festgestellte gesellschaftliche Pessimismus sich in einen neuen Optimismus wandelt – aber auch, dass der Pessimismus zum Katalysator einer Abwärtsdynamik wird.
Ein komplexes Thema wie Werte mit seinen vielfältigen Wechselwirkungen macht deutlich, dass Zukunft nicht linear gedacht werden kann, sondern in alternativen Zukunftsbildern gedacht werden muss. Werte sind wichtige Zukunftssignale. Werte formen Gesellschaften, Gesellschaften formen Werte. Wer wissen will, wohin sich die Märkte der Zukunft entwickeln, muss immer auch wissen, wohin sich die Wertelandschaften entwickeln. In pluralistischen Gesellschaften gibt es eine Vielzahl von wertvermittelnden Instanzen, die teilweise im Widerstreit und Wettbewerb zueinander stehen. Zur Zukunftsfähigkeit gehört auch, frühzeitig zu erkennen, welche Werte wichtiger werden und welche an Bedeutung verlieren.